Exponentielles Wachstum
Exponentielles Wachstum ist das einfachste Modell für einen Wachstumsprozess. Obwohl es in der Natur sehr selten in Reinform in Erscheinung tritt, stellt es die Basis für alle weiteren Überlegungen in diesem Modulteil dar.
Sei eine Spezies gegeben, die folgenden Anforderungen genügt:
- Jedes Individuum pflanzt sich unabhängig von seinen Artgenossen eigenständig fort.
- Im Durchschnitt erfolgt die Fortpflanzung nach einer konstanten Zeitspanne.
- Es gibt genug Platz und Ressourcen und auch keine Fressfeinde oder sonstige Gefahren, sodass die Fortpflanzung immer in demselben Modus fortgesetzt werden kann.
Hierbei handelt es sich um eine Annahme, die nicht den realistischen Voraussetzungen in der Natur entspricht, sondern nur bestimmte Elemente berücksichtigt. Auf die Notwendigkeit, Komplexität zu reduzieren, um Prozesse beschreiben zu können und Erkenntnisse zu gewinnen, wird im Modulteil Modellieren näher eingegangen.
Für dieses Beispiel hier kann man sich etwa Bakterien in einer Nährlösung in einem großen Gefäß vorstellen. Diese Situation ist also nicht unbedingt in der Natur zu finden, kann aber in einem Laborexperiment nachgestellt werden.
Unter diesen Bedingungen stellt sich die Frage, wie diese Spezies sich vermehren wird. Da die Individuen sich unabhängig voneinander fortpflanzen, gibt es eine bestimme Zahl $\alpha$, die beschreibt, wie viele Nachkommen ein Individuum pro Zeiteinheit hervorbringt.
Da diese Zahl aber für alle Individuen gleich sein soll, heißt das, dass die gesamte Zunahme zu einem bestimmten Zeitpunkt proportional zur bestehenden Anzahl $N(t)$ sein muss. Das $\alpha$ dient dabei als Proportionalitätsfaktor. Ein $\alpha$ von $0,\negthinspace 3 \frac{1}{h}$ würde z.B. bedeuten, dass sich pro Stunde $30\%$ aller Individuen vermehren oder, äquivalent, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Individuum sich in einer Stunde vermehrt, $30\%$ beträgt. Als Differentialgleichung formuliert heißt das also, dass
\[\dot{N} = \alpha\cdot N\]
gelten muss. Die folgende Simulation veranschaulicht dieses Modell anhand des oben bereits angedeuteten Bakterienwachstums.
Anleitung: Mit den Schiebereglern die Anzahl der Bakterien zu Beginn 𝑁0 und die Vermehrungsrate 𝛼 einstellen. Mit dem “Start”-Knopf die Simulation beginnen. Mit dem dann erscheinenden “Stop”-Knopf die Simulation wieder beenden.
Wie auf der vorgehenden Seite beschrieben, kann diese Differentialgleichung nun gelöst werden und es ergibt sich eine explizite Formel für die Anzahl der Individuen zum Zeitpunkt $t$:
\[N(t) = N_0\cdot e^{\alpha t},\]
wobei $N_0$ die Anzahl der Individuen zu Beginn der Beobachtung ist. Da die resultierende Funktion eine Exponentialfunktion ist, wird dieser Prozess exponentielles Wachstum genannt.
Anleitung: Mit den Schiebereglern die Wachstumsrate 𝛼 und die Startanzahl 𝑁0 der Exponentialfunktion einstellen.
Vergleicht man nun die Differentialgleichung und ihre Lösung und experimentiert mit der obigen Simulation, fallen zwei Dinge auf:
- Die Wachstumsrate $\alpha = \frac{\dot{N}}{N}$ ist zu jedem Zeitpunkt unabhängig von der Startpopulation.
- Wird die Wachstumsrate verdoppelt, so quadriert sich der Exponentialterm in der Lösung: $e^{2\alpha t} = \left(e^{\alpha t}\right)^2$
Der erste Punkt ist eine unmittelbare Konsequenz der drei Annahmen und wird im nächsten Abschnitt aufgegriffen und besprochen. Der zweite Punkt ist dabei durch die Charakterisierung von Exponentialfunktionen gegeben: Für beliebige $x,y$ gilt, dass $e^{x + y} = e^x\cdot e^y$ und somit insbesondere
\[e^{2x} = e^{x+x} = e^x\cdot e^x=\left(e^x\right)^2.\]
Eine Eigenschaft, die damit eng verwandt ist, ist die Tatsache, dass ein Verschieben des Funktionsgraphen in $t$-Richtung einer Streckung des Graphen in $N$-Richtung entspricht. Formal:
\[\begin{align}N(t + \Delta t) &= N_0\cdot e^{\alpha (t + \Delta t)}\ &= N_0\cdot e^{\alpha t}\cdot e^{\alpha \Delta t} = N(t) \cdot e^{\alpha \Delta t}\end{align}\]
Das bedeutet, dass die Populationsentwicklung gleich abläuft, egal ob man mit einer kleinen Population startet und in die Zukunft blickt oder gleich mit einer entsprechend größeren Population beginnt.
Im Schulunterricht ist es wichtig, dass die Lernenden ein Verständnis für diese Eigenschaften und für Exponentialfunktionen an sich bekommen. Dies kann z.B. anhand der Simulationen und Aufgaben im Abschnitt Aufgaben zum Schulunterricht erfolgen. Das Lösen von Differentialgleichungen selbst sollte – zumindest im Biologieunterricht – nicht der Fokus sein.