Das Modellierungsproblem
(Lotka, 1929; Volterra, 1931)
Im vorhergehenden Abschnitt zu logistischem Wachstum wurde angenommen, dass der Lebensraum einer Population im Wesentlichen konstant ist und so die Vermehrung nur von der Populationsanzahl selbst abhängt. In der Natur gibt es natürlich zahlreiche Wechselwirkungen zwischen verschieden Spezies. Das folgende Modell betrachtet nun den Fall, dass genau zwei Spezies in Wechselwirkung zueinander stehen und sonst alles im gemeinsamen Lebensraum unverändert bleibt. Es handelt sich also wieder um ein Modell, das die reale Situation in einem Ökosystem vereinfacht und nur approximieren kann.
Die erste Spezies repräsentiert Beutetiere, z.B. Hasen, und ihre Anzahl soll mit $X(t)$ bezeichnet werden. Sie soll sich problemlos aus den im Lebensraum zur Verfügung stehenden Ressourcen versorgen können. Die zweite Spezies bestehe aus Raubtieren, etwa Eulen, die ausschließlich die Vertreter der ersten Spezies frisst und dies zum Überleben auch benötigt. Ihre Anzahl wird mit $Y(t)$ bezeichnet. Weiterhin sollen die interspezifischen Konkurrenzen, die im Abschnitt zum logistischen Wachstum betrachtet wurden, hier vorerst außer Acht gelassen werden.
Sei $\alpha$ die Reproduktionsrate der Beutetiere. Dann muss $\dot{X}$, wie in den letzten Abschnitten auch, proportional zu $\alpha X$ sein; je mehr Individuen vorhanden sind, desto mehr Individuen werden geboren. Die Anzahl an Individuen der Beutepopulation muss aber auch abnehmen, je mehr Jäger vorhanden sind.
Genauer betrachtet: Die Größe $X\cdot Y$ beschreibt die Anzahl der Möglichkeiten, dass ein Jäger auf ein Beutetier trifft. Sei $\beta$ die Wahrscheinlichkeit, dass so ein Aufeinandertreffen zum Erlegen des Beutetiers führt. Dann muss die Beutepopulation um $\beta XY$ abnehmen. Zusammen ergibt sich somit die erste Differentialgleichung, welche die Entwicklung der Beutepopulation beschreibt:
\[\dot{X} = \alpha X - \beta XY\]
Völlig analog erfolgen die Überlegungen zur Räuberpopulation: Prinzipiell sterben die Räuber mit einer Sterberate von $\gamma$ aus, da sie alleine nicht überleben können. Die Veränderung ihrer Zahl $\dot{Y}$ muss also proportional zu $\gamma Y$ sein. Zudem können sie sich vermehren, wenn sie genug Beutetiere fangen können. Die Anzahl der Gelegenheiten dazu ist wieder $X\cdot Y$. Hier sei nun $\delta$ die Vermehrungsrate pro Beutetier. Dieser Wert beschreibt, wie viele Räuber im Durchschnitt pro erlegtem Beutetier geboren werden. Damit muss die Ableitung von $Y$ insgesamt von der Form
\[\dot{Y} = -\gamma Y + \delta XY\]
sein.
Somit entsteht ein System von gekoppelten Differentialgleichungen
\[\begin{align}\dot{X} &= \enspace\,\alpha X - \beta XY\ \dot{Y} &= -\gamma Y + \delta XY,\end{align}\]
in dem mehre Größen einander beeinflussen. Diese Gleichungen hier werden als Lotka-Volterra-Gleichungen bezeichnet, da Alfred J. Lotka und Vito Volterra sie Anfang des 20. Jahrhunderts unabhängig voneinander beschrieben und analysiert haben (Lotka, 1929; Volterra, 1931).
Wie sich diese Gleichungen im Kontext von zwei Populationen in der Natur interpretieren lassen, wird in den sogenannten Lotka-Volterra-Regeln im nächsten Abschnitt besprochen. In diesem Abschnitt folgt nun noch eine kurze mathematische Diskussion des Differentialgleichungssystems.
Eine der ersten interessanten Fragen zu solchen Systemen ist, ob es stationäre Lösungen gibt. Sprich, ist es möglich, dass die Anzahlen $X$ und $Y$ über die Zeit hinweg konstant sein können? Für konstante Funktionen ist die Ableitung Null und somit ist eine notwendige Bedingung für diese Situation, dass
\[\begin{align}\alpha X - \beta XY = X\cdot(\alpha -\beta Y) &= 0, \ -\gamma Y + \delta XY = Y\cdot (-\gamma + \delta X) &= 0\end{align}\]
sein müssen. Ein Produkt reeller Zahlen ist genau dann Null, wenn einer der Faktoren Null ist. Damit ergeben sich zwei Fälle:
- Der erste Fall, dass $X$ und $Y$ immer beide gleich Null sind. Es könnte also einfach gar keine Räuber und Beute geben, was zwar realistisch, aber uninteressant ist.
- Der zweite Fall, dass $\alpha -\beta Y$ und $-\gamma + \delta X$ gleich Null sein müssen. Daraus folgt, dass hier $X=\frac{\gamma}{\delta}$ und $Y=\frac{\alpha}{\beta}$ sind. Bestehen die Beute- und Räuberpopulationen also aus einer jeweils ganz spezifischen Anzahl an Individuen und verändern sich diese auch ausschließlich und präzise nach den Regeln der Differentialgleichungen, so würden die beiden Populationen über die Zeit hinweg immer konstant sein.
Der zweite Fall ist dahingehend unrealistisch, dass es in der Natur natürlich immer kleine Störungen und Abweichungen gibt. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Werte $\frac{\gamma}{\delta}$ und $\frac{\alpha}{\beta}$ ganze Zahlen sind. Darum betrachten wir jetzt den Fall, dass die Populationszahlen $X$ und $Y$ nicht konstant sind.
Volterra (1931) hat gezeigt, dass für Lösungen $X,Y$ des hier betrachteten Differentialgleichungssystems gelten muss, dass die Größe
\[V(t) = \gamma\cdot X(t) - \delta\cdot\ln X(t) + \beta\cdot Y(t) - \alpha\cdot \ln Y(t)\]
für alle Zeitpunkte $t$ konstant sein muss. Diese Größe hat er aus den Differentialgleichungen gewonnen.
Um Lösungen solcher Differentialgleichungen mit zwei Unbekannten zu visualisieren, können für verschiedene Zeitpunkte $t$ die Punkte $(X(t), Y(t))$ in ein $x,y$-Koordinatensystem eingetragen werden. Dies erlaubt eine qualitative Analyse des Zusammenhangs der Lösungen $X$ und $Y$. Um das einfach tun zu können, müsste die obige Gleichung nach $Y$ aufgelöst werden können, um es in Abhängigkeit von $X$ ausdrücken zu können. Da beide Größen aber sowohl linear als auch innerhalb eines Logarithmus auftreten, ist das nicht möglich (Chow, 1999). Man kann die Punkte $(X(t), Y(t))$ somit nur approximieren. Das resultiert in dem folgenden Phasendiagramm. Dort beschreibt jeder Pfeil, in welche Richtung sich eine Räuber-Beute-Population verändert, die durch den Fußpunkt des Pfeils beschrieben wird.
Auf konkrete Populationen angewendet (die orangen, wandernden Punkte in der Animation) bedeutet dies, dass die Beute- und Räuberpopulationen immer periodisch um den stabilen Punkt $\left(\frac{\gamma}{\delta}, \frac{\alpha}{\beta}\right)\enspace$herum schwanken (der grüne Punkt in der Animation). Diese und weitere Eigenschaften können mathematisch präzise formuliert werden (Volterra, 1931), hier soll es im folgenden Abschnitt aber nur um qualitative Beschreibungen gehen, die in der Natur auch beobachtbar sind.