Realitätscheck
(Beckschulte, 2019; Blum & Schukajlow, 2018; Galbraith & Clatworthy, 1990; Greefrath et al., 2013; Lindmeier et al., 2018; Maaß, 2004; Maaß & Mischo, 2018)
Der Realitätscheck soll dazu dienen, empirische Forschungsergebnisse als Ergänzung zum Themenkomplex des Modellierens vorzustellen und einen Einblick in die Praxis an Schulen zu geben.
Die folgende Darstellung orientiert sich an den Ergebnissen des Forschungsprojekts DISUM (Didaktische Interventionsformen für einen selbstständigkeitsorientierten, aufgabengesteuerten Unterricht am Beispiel Mathematik) der Universität Kassel in Kooperation mit der LMU München (2002 bis 2013), nach Blum & Schukajlow (2018). Das Projekt hatte die Aufgabe, zu ergründen, warum Lernende in Deutschland bei TIMSS und PISA so defizitär bei nicht routinemäßigen, realitätsnahen Aufgaben abgeschnitten haben.
Die Ergebnisse besagen, dass alle Schritte des Modellierungskreislaufs vonseiten der Lernenden als kognitive Hürden zu verstehen sind; wohl auch aus dem Grund, dass Schema F nicht unmittelbar anwendbar ist und ein Transferdenken geleistet werden muss.
Die Lösungsschritte der Lernenden vollzogen sich nicht nach dem unten abgebildeten siebenschrittigen Modell und es wurde mehrfach zwischen Mathematik und realer Welt gewechselt. Letztlich ergab die Studie, dass ein Mittelweg zwischen lehrergeleitetem und schülerorientiertem Unterricht, begleitet durch minimal-adaptive Lehrerphrasen (etwa “Was fehlt dir noch zum Ergebnis?” oder “Welche Angaben benötigst du?”), am erfolgreichsten sind. Validierungsvorgänge vonseiten der Lernenden wurden kaum beobachtet, was zumeist als Aufgabe der Lehrenden interpretiert wurde.
Ein weiteres Ergebnis der Studie verdeutlicht, dass der Lernprozess ohne Lehrerbegleitung nur wenig ergebnisreich war und beim Modellieren kaum Lernfortschritte gemacht wurden. Nach einer Gegenüberstellung von zwei unterschiedlichen Unterrichtsformen, einem interaktiven und einem lehrerorientierten, konnte nur die interaktive Form – die sogenannte operativ-strategische Unterrichtsform – einen nutzbringenden Lernzuwachs erzielen. Es wurde festgestellt, dass die Modellierungskompetenz nur mit selbstständigem Lernen und entsprechender Unterstützung der Lehrenden erworben werden konnte.
Weiterhin wurde in der zur DISUM zugehörigen Lösungsplanstudie ermittelt, dass eine strategische Lehrerhilfe im Sinne eines vorgefertigten Modellierungskreislaufs bedarfsweise zur Verfügung gestellt werden sollte, da sich sonst die Lernenden gewissermaßen verirren. Da der siebenschrittige Kreislauf womöglich auf der Schülerseite ebenfalls für Verwirrung gesorgt hätte, wurde ein vierschrittiger Lösungsplan angefertigt (ebd.):
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Aufgabe verstehen (a: Durchlesen; b: Situation konkret vorstellen; c: eine beschriftete Skizze erstellen)
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Mathematik suchen (a: Suchen wichtiger Angaben; b: Beschreiben des mathematischen Zusammenhangs)
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Mathematik benutzen (Vorwissen aktivieren und mathematisches Verfahren skizzieren)
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Ergebnis erklären (a: Ergebnis sinnvoll runden; b: Auf Sinnhaftigkeit prüfen; c: Erstellen eines Antwortsatzes)
An die Erkenntnisse der DISUM-Studie haben weitere empirische Forschungen angeknüpft und verschiedenste Aspekte in Bezug auf die Förderung der Modellierungskompetenzen von Lernenden untersucht. Im Fokus stehen dabei Möglichkeiten, die kognitive Komplexität der einzelnen Übersetzungsprozesse im Modellierungskreislauf für die Lernenden zu vereinfachen und ihnen geeignete Werkzeuge an die Hand zu geben.
Zwischen 2005 und 2009 wurde das Projekt KOMMA (Kompendium Mathematik) durchgeführt, das sich unter anderem mit Interventionen zum selbstständigkeitsorientierten Erwerb von Modellierungskompetenzen auseinandersetzt (Lindmeier et al., 2018). Lernende aus insgesamt 75 achten Klassen an Gymnasien setzten sich in acht Schulstunden mit Modellierungsaufgaben im Bereich der Geometrie auseinander. Der Einsatz von Lösungsbeispielen umfasste Aufgaben mit ausgearbeiteten Lösungswegen. Sie sollten Lernenden dabei helfen, einen flexiblen Umgang mit mathematischen Problemen zu entwickeln. Außerdem sollte die Fähigkeit, aus Fehlversuchen sinnvolle Schlussfolgerungen zu ziehen, gefördert werden. Heuristische Strategien, wie das Erstellen einer Skizze oder das Rückwärts-Arbeiten, dienten der zusätzlichen Unterstützung der Lernenden bei einzelnen Problemlöseschritten. Des Weiteren wurde begleitendes Material entwickelt, das ein Arbeitsheft und ein Lerntagebuch umfasst. Das zusätzliche Material zielt darauf ab, dass Lernende möglichst selbstreguliert arbeiten können. Die Ergebnisse der Studie zeigten einen signifikanten Anstieg der mathematischen Modellierungskompetenzen.
Im Rahmen des LIMo Projekts wurden 2016 konkrete Hilfsmittel zur Förderung der Modellierungskompetenzen der Lernenden eingesetzt und in insgesamt 44 neunten Klassen an Gymnasien gezielt untersucht (Beckschulte, 2019). Diese im Laufe von vier Unterrichtsstunden implementierte Intervention orientierte sich einerseits an digitalen Werkzeugen in Form einer dynamischen Geometrie-Software und andererseits an strategischen Werkzeugen in Form eines Lösungsplans mit kognitiven Lernstrategien. Die Ergebnisse beider Gruppen wurden mit einer dritten Kontrollgruppe verglichen, welche die Lerneinheiten ohne Hilfsmittel bearbeitete. Zu den eingesetzten kognitiven Lernstrategien zählten: Das wiederholende Lesen, das Unterstreichen und Ausschreiben der Angaben, das Zeichnen einer Skizze und das Suchen einer Analogie. Darüber hinaus wurden metakognitive Strategien wie die Planung des Lösungsprozesses und die Kontrolle der Zwischen- und Endergebnisse angeboten. Die Studie fokussierte atomistische Modellierungsaufgaben und kam zu den folgenden Ergebnissen: In keiner der Gruppen konnte eine signifikante Kompetenzentwicklung im Vereinfachen nachgewiesen werden. Auch in Bezug auf die Teilkompetenz des Mathematisierens konnten keine Lernzuwächse beider Experimentalgruppen verzeichnet werden. Allerdings lässt sich beim Interpretieren ein Kompetenzzuwachs für alle Gruppen feststellen, welcher nur in den Experimentalgruppen auch stabil blieb. Schließlich zeigten alle Gruppen einen signifikanten Leistungszuwachs beim Validieren im Verlauf der Intervention.
Abschließend soll das Projekt STRATUM (Strategies for teaching understanding in and through modelling) erwähnt werden, aus dem ein strukturierter Lehrgang explizit für leistungsschwächere Lernende im Bereich des Modellierens hervorgegangen ist (Maaß & Mischo, 2018). Dieses hat sich intensiv mit der Steigerung der Motivation und der Verbesserung des mathematischen Selbstkonzepts der Lernenden auseinandergesetzt. Das Verhalten der Lehrenden nimmt in dieser Studie eine Schlüsselrolle ein. Insgesamt lässt sich eine positive Entwicklung der Motivation und des mathematikbezogenen Selbstkonzepts in den Interventionsgruppen feststellen. Zurückzuführen sind diese Ergebnisse auf die Berücksichtigung der Grundbedürfnisse der Lernenden sowie ein kleinschrittiges und strukturiertes Vorgehen während der Unterrichtseinheiten. Allerdings kommt es nur im Zusammenhang mit einer Veränderung der Überzeugungen von Lehrkräften zu einem Kompetenzzuwachs im Bereich des Modellierens seitens der Lernenden. Die Einstellungen der Lehrkraft müssen sich in konstruktivistischer Richtung verändert haben, um eine Steigerung der Modellierungskompetenzen zu erreichen.
Lernendenüberzeugungen zu Modellierungsaufgaben
Lernende haben festgelegte Einstellungen zu Modellierungsaufgaben. Wenn diese stabile und überdauernde Überzeugungen werden, nennt man sie Beliefs. Maaß (2004) konnte in ihrer Studie feststellen, dass Lernende mit schemaorientierten, formalismusorientierten oder kognitiv geprägten Beliefs Modellierungsaufgaben vehement ablehnten. Die anderen Gruppen standen den Aufgaben jedoch teilweise positiv oder sehr positiv gegenüber. Des Weiteren wurde deutlich, dass das Arbeiten mit Modellierungsaufgaben im Unterricht die Einstellung der Lernenden dazu positiv beeinflusst.
Allgemein beeinflusst der Unterricht mit Modellierungsaktivitäten die gesamte Einstellung der Lernenden zum Mathematikunterricht günstig (Galbraith & Clatworthy, 1990).