Größenvergleich
(Reinhold, 2018; Reinhold, Obersteiner, Hoch, Hofer & Reiss 2020)
Wie im Abschnitt zum Natural Number Bias bereits erwähnt, ist es für Lernende schwierig, die Größe von Brüchen abzuschätzen beziehungsweise vergleichen zu können. Das hat hauptsächlich damit zu tun, dass es zu einem Bruch keinen nächstgrößeren gibt. Hierbei treten starke Abstandseffekte hervor: Liegen zwei zu vergleichende Brüche nah beisammen, so fällt es Lernenden besonders schwer zu entscheiden, welcher größer ist (Reinhold, Obersteiner, Hoch, Hofer & Reiss 2020). Wie beim Erweitern und Kürzen ist der Schlüssel zum Verständnis der geometrische Zusammenhang zwischen Zähler und Nenner und nicht das Auswendiglernen von Vergleichsformeln.
Die zwei grundlegendsten und wichtigsten Fälle hierbei sind, dass die zu vergleichenden Brüchen denselben Nenner oder denselben Zähler haben können. Abstrakt lassen sich daraus folgende Regeln ableiten:
und
Diese Regeln bereiten Probleme, wenn sie als Standardmethode eingeführt werden. Da Brüche erweitert werden können, ist es immer möglich, sie auf einen gleichen Nenner oder Zähler bringen. Allerdings kann das sehr leicht zu relativ großen Zahlen und zu Rechenfehlern führen. Ein Vergleich der beiden Brüche $\frac{6}{11}$ und $\frac{5}{12}$ führt so z.B. zu
\[\frac{72}{132},\quad\frac{55}{132}\]
bei gleichem Nenner und
\[\frac{30}{55},\quad\frac{30}{72}\]
bei gleichem Zähler. Das gilt selbst dann, wenn es jeweils die kleinstmöglichen sind. Wenn nun zusätzlich die anschauliche Bedeutung beider Regeln unklar ist, kann das zu falschen Ergebnissen und langen, komplizierten Rechnungen führen. Um dem entgegenzuwirken, werden diese beiden grundlegenden Regeln nun geometrisch erklärt. Anschließend werden andere Vergleichsstrategien vorgestellt, die diese ergänzen.
Die Interpretation, mit der Brüche in dieses Modul eingeführt wurden, ist, dass Nenner die Größe von (Bruch-)Stücken beschreiben und Zähler deren Anzahl. Sind Nenner von Brüchen gleich, bedeutet das also, dass die Stücke gleich groß sind, es geht um dieselbe Grundeinheit. Damit beschreibt der Bruch mit dem größeren Zähler die insgesamt größere Menge.
Sind hingegen die Zähler gleich, heißt das, dass gleich viele Stücke betrachtet werden. Dann liefert der Bruch mit dem kleineren Nenner – sprich, den größeren Stücken – die insgesamt größere Menge
Werden die eingangs genannten Regeln in dieser Terminologie umformuliert, lauten sie
und
In ihrer Komplexität unterscheiden sich diese Varianten nicht von den ursprünglichen Regeln. Allerdings wurde die Notwendigkeit des Auswendiglernens eliminiert, da sie in sich logisch und anschaulich sind.
Diese geometrischen Anschauungen können leicht zu anderen Regeln umgewandelt bzw. erweitert werden. So ist es unmittelbar einleuchtend, dass
wahr ist. In dem Beispiel oben mit den Brüchen $\frac{6}{11}$ und $\frac{5}{12}$ liefert das sofort das Ergebnis, dass $\frac{6}{11}$ größer ist. An dieser Stelle ist auch gut zu erkennen, dass abstrakt formulierte Regeln zwar kurz und leicht überprüfbar sein können, aber keinen intrinsischen, offensichtlichen Grund haben müssen, warum sie stimmen. Die Regel hier rein mit algebraischen Vokabeln zu formulieren liefert:
Wenn die Lernenden bei der Einführung von Brüchen – so wie hier im Modul – Übungen zur qualitativen Markierung von Brüchen bearbeitet haben, haben sie idealerweise eine intuitive Vorstellung von der Größe bestimmter Brüche entwickelt. Darauf aufbauend können die folgenden Überlegungen zum Größenvergleich entwickelt werden.
Sind die beiden Brüche $\frac{8}{9}$ und $\frac{7}{6}$ zu vergleichen, gibt es ein sehr einfach zu erkennendes Merkmal, das die beiden unterscheidet: Der erste ist kleiner als $1$, der zweite größer – erkennbar daran, dass der Zähler im ersten Bruch kleiner ist als der Nenner und im zweiten größer. Aufgrund der Transitivität der Ordnung der rationalen Zahlen folgt damit umgehend aus $\frac{8}{9} < 1 < \frac{7}{6}$, dass $\frac{8}{9} < \frac{7}{6}$.
Die beiden Brüche liegen hier zwar relativ nah zusammen – ihr Abstand beträgt $\frac{5}{18}\approx 0,!278$ – sodass eine qualitative Abschätzung schwierig sein könnte. Aber da die $1$ sehr leicht mit beiden verglichen werden kann, entfällt der direkte Vergleich.
Dieses Vorgehen überträgt sich natürlich genauso auf alle ganzen Zahlen als Vergleichswert. So ist z.B. $\frac{15}{7} < 3 < \frac{25}{8}$. Allerdings ist es signifikant schwerer, die ganze Zahl, die die beiden Brüche trennt, zu ermitteln, wenn sie nicht gleich $1$ ist. Die gemischten Brüche müssen in unechte Brüche umgewandelt werden. Allerdings existiert eine einfache Regel der Form
nicht mehr. Darum ist diese Regel nur mit der $1$ als Vergleichswert derart einfach anwendbar. Andere Zahlen als Vergleichswerte heranzuziehen kann aber sinnvoll sein, wenn man ein gutes Gespür für ihre Größe hat. Und der Bruch, der, neben der $1$, am besten dafür geeignet ist, ist $\frac{1}{2}$: Lernende haben meist schon vor der Einführung der Bruchrechnung aus dem Alltag eine gute Vorstellung davon, was eine Hälfte ist: z.B. wissen sie, wie Uhren und Geld funktionieren – und können Bruchwerte im Vergleich damit gut abschätzen. Bei den Brüchen am Anfang dieser Seite, $\frac{6}{11}$ und $\frac{5}{12}$, ist $\frac{5}{12} < \frac{1}{2}$, denn die Hälfte von $12$ ist $6$. Dass $\frac{6}{11} > \frac{1}{2}$ kann man daran erkennen, dass zum Ganzen nur noch $\frac{5}{11}$ fehlen. (Mit wachsender Erfahrung mit Dezimalbrüchen ist das schneller und einfacher zu sehen, denn die Hälfte von $11$ ist $5,!5$.) Somit ist erneut $\frac{5}{12} < \frac{6}{11}$.
Die Herausforderung in der Vermittlung und auch Anwendung dieser Regeln besteht darin, dass nicht jede Regel in jeder Situation angewendet werden kann. Wie die ALICE-Studie allerdings gezeigt hat, führt die geometrische Sichtweise von Größenvergleichsstrategien dazu, dass Schülerinnen und Schüler weniger Fehler machen (Reinhold, 2018). Das trifft insbesondere auch auf die eingangs aufgeführten Standardmethoden zu.
Um diese verschiedenen Strategien zu illustrieren und zu vergleichen, stellen wir hier eine interaktive Aufgabe aus dem ALICE eBook vor, in der alle hier beschriebenen Vergleichsstrategien ihre Anwendung finden. Zu beachten ist, dass bei einer falschen Antwort der erklärende Text immer die bestmögliche der vorgestellten Strategien wählt und diese zudem immer geometrisch formuliert.
Link zur Originalversion
Anleitung: Durch Anklicken können Sie den richtigen Bruch auswählen. Klicken Sie zum Überprüfen Ihrer Antwort auf den orangen “Stimmt das?”-Knopf; und zum anschließenden Anzeigen einer neuen Aufgabe auf den blauen “Neu”-Knopf. Der blaue “Erklär’s mir”-Knopf, der nach einer falschen Antwort erscheint, zeigt die einfachste Vergleichsstrategie für jedes Paar von Brüchen.
Hier lohnt es sich erneut, grafische Aufgaben zu verwenden und insbesondere solche, bei denen das Ganze nicht in Stücke unterteilt ist. Wie zuvor in den Abschnitten Teil eines Ganzen und mehrerer Ganzer und Wertgleiche Brüche dient dies der Förderung des intuitiven Verständnisses von Brüchen und Bruchzahlen.
Link zur Originalversion
Anleitung: Durch Anklicken können Sie das richtige Bild auswählen. Klicken Sie zum Überprüfen Ihrer Antwort auf den orangen “Stimmt das?”-Knopf; und zum anschließenden Anzeigen einer neuen Aufgabe auf den blauen “Neu”-Knopf. Der blaue “Erklär’s mir”-Knopf, der nach einer falschen Antwort erscheint, zeigt die einfachste Vergleichsstrategie.
Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass es unzählige weitere Regeln zum Vergleich von Brüchen gibt, die dann aber oft nur für Spezialfälle gelten und nicht notwendigerweise eine anschauliche geometrische Begründung besitzen. Beispielsweise sei hier die folgende angeführt:
Diese ungemein komplizierte und verklausulierte Regel ist durchaus praktisch, um z.B. schnell zu sehen, dass $\frac{4}{5} > \frac{3}{4}$. Allerdings ist sie nur selten anwendbar und ihre Begründung ist rein algebraisch:
\[x<y\]
\[\Leftrightarrow \frac{a}{b}<\frac{a+n}{b+n}\]
\[\Leftrightarrow ab + an < ab + bn\]
\[\Leftrightarrow an < bn\]
\[\Leftrightarrow a<b\]
\[\Leftrightarrow x<1.\]
Es lohnt sich also nicht und kann sogar nachteilig sein, diese während der Einführung in die Bruchrechnung zu erwähnen. Für Lernende mit mehr Erfahrung können Regeln dieser Art aber durchaus interessant und hilfreich sein.